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Donnerstag, 16. Dezember 2010

"wieder da"

Am Mittwoch, 15.12. "reisen" wir ins St.Anna. Eigentlich wohnen wir ja nicht weit weg, aber an diesem Morgen sind wir im dichten Schneetreiben fast zwei Stunden unterwegs. Mein Mann und ich sind an diesem Morgen mit ähnlichen, quälenden Gefühlen aufgewacht. Ich fühlte mich, als müsste ich zum Henker, Markus verwendete das Bild des Schlächters. Wir wissen es beide, unser Kind ist schwer krank, wir bringen es ins Krankenhaus, damit es geheilt werden kann. Aber ich schreibe hier vom Gefühl. Wir fahren mit einem "gesunden" Kind ins Krankenhaus, wissend, was ihn dort erwartet, nicht wissend, ob er je mit uns im Auto diesen Weg wieder in die andere Richtung zurücklegen wird. Das hat nichts mit negativem Denken zu tun, es ist nur diese Scheiß-Angst, die zu leugnen zwecklos ist, die auszusprechen uns einander aber auch näher bringt. Während der Autofahrt werden auch Aaron einige Dinge bewusst, auf die er jetzt wieder wird verzichten müssen. So jammert er zum Beispiel, er wolle (jetzt auf der Stelle / diese Strecke hier) mit dem Traktor fahren.

Auf der 2B begrüßen uns ausnahmslos betroffene Gesichter. Alle hätten sich gewünscht, uns nicht wieder hier anzutreffen, zumindest nicht unter diesen Umständen. Wer es noch nicht weiß, sieht mich fragend an, und ich sage nur, wir sind "wieder da". Hier im St.Anna weiß man schon, was ich damit meine. Die Bestürzung im Gesicht meines Gegenübers zeigt mir, dass sie verstehen. Die Situation ist ernst. Nicht hoffnungslos, nein, aber sehr ernst.

Aaron ist einmalige Spitze. Man hat das Gefühl, er kommt nach Hause. Er schnappt sich das Dreirad und kurvt seine Runden, bleibt stehen, spricht das Personal an: "Du, weißt du noch, wie du mit mir Zug gespielt hast?" - "Hey, du hast vergessen noch mit mir zu malen!"

Der Untersuchungs-Marathon ist für ihn eigentlich eine willkommene Ablenkung in der Zeit des Nicht-essen-dürfens. Wir gehen zum Ultraschall, wo zur Vorbereitung der Katheder-Operation die Durchlässigkeit der Hals-Venen überprüft wird. Ich habe meinem extrem kitzeligen Kind erklärt, dass es nicht lachen darf, weil sonst das Bild verwackelt wird. Jetzt liegt er da, ganz still und konzentriert, und nur am Zucken der Zehen erkennt man, dass er sich am liebsten krümmen würd vor Lachen. Die untersuchende Ärztin sagt zwar, dass sie ein lachendes Kind hier als willkommene Abwechslung betrachten würde, lobt aber trotzdem Aarons Selbstbeherrschung.

Anschließend müssen wir noch zum Rhöntgen, zum EKG und zum Herz-Echo - auch eine Ultraschall-Untersuchung. Überall ist Aaron gleich kooperativ. Er hat keine Angst, er kennt sich aus. Das ist für ihn ein unglaublicher Vorteil im Vergleich zur ersten Runde. Später, als ich mit ihm vor dem Einschlafen die heutigen Erlebnisse noch einmal Revue passieren lasse, setzt er sich ganz aufgeregt auf. Wir haben eine Untersuchung vergessen! Wir waren noch nicht da mit der Haube, beim EEG.

Nach Abschluss der Untersuchungen gibt's wieder Zauberpflaster für den Venflon, und dann heißt es warten. Es sind noch Thrombos bestellt, denn für die OP hat er zu wenige. Weil Mittwoch ist, ist Eltern-Runde der Kinderkrebshilfe, und ich setze mich dazu, währen Aaron mit dem Dreirad seine Runden fährt. Mir wird ein Stück Kuchen angeboten, ich nehme es an, Aaron kommt grad vorbei, schaut kurz, fährt weiter, ohne etwas zu sagen. Er weiß, er darf jetzt nichts essen. Die Kindergärtnerin lässt ihn den Stations-Adventkalender öffen. Es sind Naschsachen drin und ein kleines Spielzeug. Er legt die Naschsachen kommentarlos auf sein Nachtkästchen. Als der Mittag vorübergeht, wird der Hunger allerdings schon sehr groß. ("Mama, ich will was ESSEN!") Aber nun dauert es nicht mehr lange.

Um etwas 13h30 werden wir gerufen. Ich erfahre, dass Frau Dr Keck den Eingriff vornehmen wird. Sie hat das schon unzählige Male gemacht. Ich vertraue ihr. Aaron hat auch jetzt keine Angst. Er findet es sogar lustig sich nackig auszuziehen und nur mit einem OP-Hemdchen bekleidet unter die Decke zu schlüpfen. Die grüne Haube wollte er allerdings nicht gleich aufsetzen. ICh denke aber, das tat er, um den jungen Assistenzarzt zu ärgern, der so gar keinen Spaß zu verstehen schien, obwohl Aaron immer wieder seinen Bart angreifen wollte.

Der Eingriff dauerte diesmal mehr als 1 1/2 Stunden, und wie immer wurde ich gegen Ende hin nervös. Vertrauen hin oder her, wenn es länger dauert als ich gedacht habe, dann fallen mir halt schon die ganzen möglichen Komplikationen wieder ein, die mir eine pflichtbewusste Ärztin wieder heruntergebetet hatte, als sie mir die Einwilligungserklärung zur Unterschrift reichte.

Nach dem Eingriff ist Aaron bald wieder guter Dinge. Ich selbst fühle mich ein bisschen überrollt, als mir klar wird, dass die Lumbalpunktion nicht nur zur Untersuchung diente sondern auch schon wieder Cytarabin gespritzt wurde. Was hatte ich denn erwartet? Was würde ein Aufschieben der Chemo denn bringen? Trotzdem, es geht los. Die Schwester, die ein Medikament an den Tropf hängt sagt nur: "Das ist das Sowieso, das gehört zur Therapie." Und wusste noch gar nicht, dass wir schon mit der Therapie begonnen haben. Die Ärztin ist im Stress, aber weil ich nachfrage, nimmt sie sich doch gleich Zeit und erklärt mir wenigstens den groben Überblick und was momentan gemacht wird. Den Therapieplan hat sie mir ausgedruckt. Nach diesem Gespräch ist es irgendwie anders. Das Ankommen ist vorbei, wir sind wieder mitten drin. Mit dem Plan in der Hand ist das Ziel definiert und die ersten kleinen Schritte, die es jetzt zu gehen gilt. Irgendwie ist das schon fast wieder normal. Ich bin angekommen.

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